Ni Una Menos! – Rede zum 14. Juni in Winterthur

Zeichnung eines Mädchens* in schwarzem Kleid die mit geschlossenen Augen und erhobener linker Faust, mit einem Teddy Bär in der Rechen Hand das auf einer Wiese steht. Darüber steht in Handschrift geschrieben "#Ni Una Menos.

Ni Una Menos! – Rede zum 14. Juni in Winterthur

(S)1 Die feministische Bewegung ist unendlich breit und vielfältig in ihrer Ausdrucks- und Aktionsform. Das Thema, auf das wir heute am 14. Juni den Hauptfokus legen, ist die Gewalt gegen Frauen*, Trans*, Inter* und Genderqueere*. Im Spezifischen schauen wir auf den Femizid, also den Mord an Frauen*, der jedoch nur die Spitze des Eisbergs an erlebter geschlechtsspezifischer Gewalt bildet.

In diesem Jahr allein wurden bereits 11 Frauen* in der Schweiz von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet. Der Lockdown und die daraus resultierende Repression hat es aber verunmöglicht den ermordeten Frauen* zu gedenken. Kleingruppen von fünf Personen, die auf öffentlichen Plätzen, den Frauen* gedenken wollten, wurden beispielsweise von der Polizei weggewiesen, da sie angeblich an unbewilligten Kundgebungen teilnehmen würden. Fünf Frauen* wurden in Zürich verhaftet und drei Stunden festgehalten und gedemütigt, weil sie in zwei Hauseingängen Plakate mit Anlaufstellen für häusliche Gewalt aufhängten. Das ist darum sehr stossend, weil zuvor das BAG dazu aufgerufen hat entsprechende Informationen öffentlich sichtbar zu machen.

Heute wollen wir den ermordeten Frauen* gedenken, denn ihre Namen und Geschichten sollen nicht vergessen werden.

Einleitung Canción sin miedo2

(M) „Lasst den Staat, den Himmel, die Straßen erzittern
Lasst die Richter und die Justiz erzittern
Heute verlieren wir Frauen die Ruhe
Sie haben Angst in uns gesät, aber uns wachsen Flügel.

Jede Minute jeder Woche
stehlen sie unsere Freundinnen, töten sie unsere Schwestern.
Sie zerstören ihre Körper, lassen sie verschwinden.

Das ist der Anfang des Liedes „Canción sin miedo”, ein Lied der “Ni una menos”-Bewegung. “Nicht eine weniger” bedeutet, wir wollen keine Freundinnen, Töchter und Mütter mehr verlieren an die Gewalt ihrer Männer. Gewalt, die durch die partriarchalen Gesellschaftsstrukturen nicht nur begünstigt, sondern erst möglich gemacht wird. „Patriarchat bedeutet wörtlich die Herrschaft von Vätern. Aber heute geht männliche Dominanz über die Herrschaft der Väter hinaus und schließt die Herrschaft von Ehemännern, von männlichen Vorgesetzten, von leitenden Männern in den meisten gesellschaftlichen Institutionen in Politik und Wirtschaft mit ein […] Mit dem Begriff Patriarchat wird die Gesamtheit von bedrückenden und ausbeuterischen Beziehungen, die Frauen*, Trans*, Inter* und Genderqueere* betreffen, sowie ihr systematischer Charakter ausgedrückt. (Maria Mies, 1988[22]).“

Begriff Femizid

Der Begriff «Femizid» wurde erstmals 1976 am internationalen Tribunal zu Verbrechen gegen Frauen in Brüssel von Diana Russell, Professorin für Soziologie am Mills College in Oakland, Kalifornien verwendet.

Femizid wird definiert als die Tötung von Frauen* und Mädchen* durch Männer*, weil sie weiblich sind. Das heisst Morde, bei denen das Geschlecht des Opfers für den Täter keine Rolle spielt, sind keine Femizide.

Einige Beispiele von Femiziden sind: Steinigungen von Frauen, Ehrenmorde, Vergewaltigungsmorde, Ermordungen von Frauen und Mädchen durch ihre Partner, aufgrund von Affären, weil sie rebellisch sind, oder anderen ähnlichen Ausreden, Todesfälle als Folge von Genitalverstümmelung, Opfer des Frauenhandels, und Sexarbeiterinnen getötet durch ihre Zuhälter oder Freier.

Von den Hexenverbrennungen in der Vergangenheit zu der Ermordung von Mädchen in vielen Gesellschaften, zu den Ehrenmorde an Frauen, sehen wir, dass Femizide schon sehr lang geschehen.

Femizide beinhaltet aber auch versteckte Formen von Tötungen von Frauen, wie patriarchale Regierungen und Religionen, die Frauen den Zugang zu Verhütungsmittel und/oder Abtreibungen verbieten und dadurch Tode von Frauen durch illegale Abtreibungen in Kauf nehmen.

Diana Russell, die den Begriff «Femizid» 1976 geschaffen hat, sagt dazu:

«Männer sagen uns, dass wir kein krankhaftes Interesse an diesen Gewalttaten haben sollen.  Der Inbegriff an Trivialität soll dabei eine Neugierde über „die letzte Vergewaltigung und den letzten Mord“ sein.  Die Ermordung und Verstümmelung einer Frau werden nicht als politisches Ereignis betrachtet.  Männer sagen uns, dass man ihnen nicht die Schuld für das geben kann, was einige wenige Verrückte tun.  Doch gerade die Leugnung der politischen Bedeutung dieser Gewaltform trägt dazu bei, sie aufrechtzuerhalten. Sie hält uns schwach, verletzlich und ängstlich. Das sind die Hexenverbrennungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die sogenannten „Wahnsinnigen“, die diese Gewalttaten begehen, leben nur die logische Schlussfolgerung des Frauenhasses aus, der alle patriarchalen Kulturen der Welt durchdringt. Daher ist die Erfindung eines neuen Begriffs für die sexistische Tötung an Frauen* notwendig für Feministinnen, um sich zu organisieren und diese tödliche Form der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu bekämpfen.»

Patriarchale Gewalt muss als solche benannt werden. Begriffe wie «häusliche Gewalt», «Beziehungsdelikt» oder «Familiendrama» sind nicht nur verharmlosend, sondern schliessen die Mitschuld der ermordeten Person mit ein.

Bezug auf die Schweiz mit Zahlen und verschiedenen Statements

(S) In der Schweiz wird etwa alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. Dabei sind 50% der weiblichen Mordopfer bereits vor der Tat von ihrem Partner bedroht oder tatsächlich angegriffen worden. Und 46% der Täter der Polizei vorbekannt meist aufgrund von Gewaltstraftaten. Die Präsidentin der Polizeigewerkschaft Johanna Bundi Ryser sagt dazu: «Es fehlt in erster Linie an Gesetzen, potenzielle Täter rechtzeitig in Haft zu nehmen und die betroffenen Frauen zu schützen. Denn oft überwiegt Täterschutz gegenüber Opferschutz.»

Neben Femiziden hat laut Amnesty International mindestens jede 5. Frau ab 16 Jahren in der Schweiz einen sexuellen Übergriff erlebt. Und jede Woche werden in der Schweiz 10 Vergewaltigungen der Polizei gemeldet. Die Dunkelziffer ist ein Vielfaches höher.

Geschichten der ermordeten Frauen

(M) In der Nacht vom 31. Dezember 2019 wurde die 52-jährige Ulrike B. von ihrem Partner in einem Hotel in Locarno ermordet. Ihr Partner war bereits wegen häuslicher Gewalt vorbekannt.

(S) Am 01. Januar 2020 wurde in Monthey VS eine tote 40-jährige Frau* gefunden. Vor Ort wurde ein Mann* verhaftet, der mit der Ermordeten bekannt war.

(M) Nur fünf Tage später, am 06. Januar 2020, wurde die 17-jährige Sara M. gefunden, die von ihrem Exfreund in Yverdon-les-Bains umgebracht und in einem Sumpf versenkt wurde.

Am 26. Januar 2020 tötete ein Mann* eine 55-jährige Frau* in Genf.

(M) Die 44-jährige N.R. wurde am 03. März 2020 in Hombrechtikon tödlich von ihrem Partner verletzt. Sie verstarb am darauffolgenden Tag.

(S) Am 05. März 2020 wurde eine 90-jährige Frau* leblos im Fluss in Oberglatt gefunden. Es wird von einem Tötungsdelikt ausgegangen.

(M) Am 18. März 2020 fand man eine 31-jährige Frau* tot und übel zugerichtet auf einem Industrieareal in Oey. Ihr Partner hat sich geständig gezeigt.

(S) Zwei Wochen später erstach am 02. April 2020 ein 20-jähriger Mann* seine 59-jährige Mutter in Emmenbrücke.

(M) Am 15. April wurde die 81-jährige Doris M. in Meierskappel umgebracht. Drei Männer* wurden als mutmassliche Täter festgenommen.

(S) Am Samstag 16. Mai wurde die 30-jährige Aliya S. von ihrem 61-jährigen Ehemann in Wangen umgebracht. Er beging danach Selbstmord. Er verbot ihr zuvor mit anderen Menschen zu sprechen. Sie bat auf Facebook um Hilfe für ihre arme Familie in Tunesien. Sie durfte nicht arbeiten, oder eigenes Geld verwalten, sodass sie vollständig von ihm abhängig war.

(M) Und am nächsten Tag, am 17. Mai, wurde die 47-jährige Réka Z. gemeinsam mit ihrem Partner von ihrem getrennten Ehemann mit dessen Dienstwaffe in Bellinzona erschossen. Der Täter war ein Ex-Polizist, der seit einigen Monaten pensioniert war.

(S) Alles diese Morde sind keine blutigen Beziehungsdramen oder Beziehungsdelikte, sondern die Tötung von Frauen durch ihre Partner, Expartner, oder Söhne, nur aus dem Grund, dass sie Frauen sind!

Gewalt gegen Frauen ist eine Verletzung der Menschenrechte (inkl. Appell für zeitgemässes Sexualstrafrecht)

(M) Gewalt an Frauen* ist eine geschlechtsspezifische Form der Verletzung von Menschenrechten. Sie kennt keine Grenzen, weder in kultureller Hinsicht noch in Bezug auf das soziale Umfeld, die Formen und das Ausmass. Patriarchal geprägte Gesellschaftsstrukturen erlauben Männern, Frauen*, Trans*, Inter* und Genderqueere* zu dominieren, sie zu erniedrigen oder als ihr Eigentum zu behandeln. Dieses Verständnis führt zu Gewalt an Frauen*. Die Schweiz hat sich mit dem Unterzeichnen der Istanbul-Konvention 2017 verpflichtet alle nicht-einverständlichen Sexualakte zu verfolgen und zu bestrafen, und zwar auch dann, wenn das Opfer sich nicht körperlich zur Wehr gesetzt hat. Das würde bedeuten, dass das Konsensprinzip, also die «Nur-Ja-heisst-Ja»-Regel im Sexualstrafrecht verankert werden müsste. Im aktuellen Strafrecht muss sich jemand zur Wehr setzen. Ein «Nein» reicht nicht. Wir fordern darum vom Parlament eine zügige Anpassung des Sexualstrafrechts mit adäquater Bestrafung aller sexuellen Handlungen ohne Einwilligung.

Zweite Einleitung Lied Canción sin miedo

(S) „Ich bin Claudia, (M) ich bin Esther (S) und ich bin Teresa
(M) Ich heiße Ingrid, (S) ich heiße Fabiola und (M) ich heiße Valeria
Ich bin das Mädchen, das du gezwungen hast.

(M) Ich bin die Mutter, die jetzt um ihre Toten weint
Und ich bin diejenige, die dich die Rechnungen bezahlen lassen wird

Wir singen ohne Angst, wir fordern Gerechtigkeit
Wir schreien für jede vermisste Frau
Lasst es stark erklingen: Wir wollen sie lebend!
Lasst den Femizid mit Kraft fallen.

Nichts bringt mich mehr zum Schweigen,
wenn sie eine von uns anrühren reagieren wir alle.“

(S) Wir begehen den schweizweiten gemeinsamen Moment der Frauen*streik-Bewegung um 15.24 Uhr mit dem Lied „Canción sin miedo“ der mexikanischen Sängerin und Liedermacherin Vivir Quintana, aus dem wir verschiedene Textausschnitte gehört haben. Wir gedenken damit allen Frauen, die von ihren Männern ermordet worden sind.

Geimeinsames Singen des Lieds «Canción sin miedo»

Infos bezüglich Anlaufstellen

(M) Wenn du von Gewalt betroffen bist oder jemanden kennst der Hilfe braucht, wende dich ans Frauen-Nottelefon Winterthur, 052 213 61 61 oder ans Frauenhaus Winterthur, über die 24h-Hotline, 052 213 08 78.

Wenn du als Mann nicht mehr weiter weisst und Hilfe brauchst, dann wende dich ans mannebüro züri, 044 242 08 88.


1 Soll anzeigen, wer sprach.

Fett markierte Zwischentitel wurden nicht ausgsprochen, helfen in der schriftlichen Form aber der Leserlichkeit und wurden deshalb beibehalten.

* Zeigt auf, dass Geschlechter sozial konstruiert sind.

1200 1119 Frauen*streik / feministischer Streik
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